Mein Freund – Mein Feind – Mein Freund

Eine Novelle von Rohan Stefan Nandkisore

 „Kompanie, ein Lied!“ fordert Unteroffizier Pfützenreuther. Stimmen aus meinem Zug rufen zurück „Argonnerwald“, Argonnerwald ertönt es noch ein paarmal aus der Formation bevor es losgeht.

1941 erhielt ich den Marschbefehl für Finnland, genauer nach Lappland. Zweihundertfünfzigtausend Soldaten wurden insgesamt mobilisiert und bildeten die 20. Gebirgsarmee. Meine Kompanie sicherte neben anderen den Raum im Rücken der Masse der Streitkräfte, die in Richtung Murmansk vorrückte. Marschieren im tiefsten Winter in Lappland ist immer noch besser als bei einer Übung eingebuddelt bei minus 30°C in der Kälte zu verharren und auf die dummen Befehle des Uffz (Unteroffizier) zu hören, denke ich mir. Mann oh Mann, dass ich so einem Schwachkopf gehorchen muss, ist beinahe schlimmer als der finnische Winter! Trotzdem haben wir es ruhig, fast zu still. Unserem Zugführer fallen immer neue Verrücktheiten ein, um uns zu „beschäftigen“. Es steht eine Durchschlageübung an. Die Trennung von der eigenen Truppe soll simuliert werden und in kleinen Gruppen müssen wir in zwei Nächten und drei Tagen durch die Wälder und Seen zu einer vorbestimmten Zeit im Dorf Salla zum Frühstück eintreffen. Mein Gruppenführer ist Offiziersanwärter und ein fähiger Kerl, dem ich vertraue. Eine Karte und Kompass sind die einzigen Hilfen. Währenddessen spielt Hauptfeldwebel Volpers mit seinen Leuten den Angreifer und jagt uns mit Leuchtmunition über das Gelände.

An Schlaf ist nicht zu denken und in den wenigen Pausen werden Wachen eingeteilt, so daß abwechselnd ausgeruht wird. Unsere Gewehre, „die Bräute der Soldaten“, sollen wir mit unter unsere Decken legen. Aber von wegen, kollektive Befehlsverweigerung ist angesagt, keiner kontrolliert, keiner fragt, es ist einfach zu kalt. Wir ruhen in einfachen Unterständen aus, die eine finnische Einheit bereitgestellt hat. Sie besuchen uns heimlich und bringen heißen Tee und Rentierfelle. Was für eine Erleichterung! Völlig erschöpft kommen wir früh am zweiten Morgen in Salla an und treffen alle anderen Kameraden, die das gleiche Schicksal teilen, zum Frühstück. In der Gemeindehalle warten fleißige Helfer aus der Gemeinde mitleidig auf das Ende der stumpfsinnigen Ansprache des Kompanieführers, der über zähes Leder und Kruppstahl schwadroniert. Weder verstehen sie etwas, noch zeigen sich unsere finnischen Freunde interessiert, eine Übersetzung zu bekommen. Überhaupt machen sie, was sie wollen. Manchmal sitzen die Anführer der finnischen und deutschen Truppen zusammen und hecken etwas aus, eine Befehlskette zwischen beiden Parteien kann ich nicht ausmachen.

Nach dem Essen wird uns Schlaf befohlen. Wir ruhen den ganzen Tag und werden erst am Abend wieder kurz munter. Das Leben hier wäre ziemlich öde, wäre da nicht die finnische Kompanie, die uns zur logistischen Unterstützung zugeteilt wurde. Der Austausch zwischen Deutschen und Finnen ist locker und heiter. Am Sonntag lädt mich Keijo, ein junger Finne aus Kuusamo, zusammen mit einigen Kumpels zur Sauna am See ein. Die Hitze da drinnen ist trotz der extremen Winterkälte so groß, dass ich bald vor die Hütte muss. Aus einem quadratischen Eisloch in Ufernähe neben der Hütte sehe ich jemanden aus dem See klettern, Finnen lieben das. Meine ersten Versuche führen mich bis an die Waden ins eiskalte Wasser. Nach einem Monat schaffe ich es schließlich doch noch, ganz unterzutauchen. Leben wie ein Finne, gar nicht so schlecht, denke ich mir.

 Unsere finnischen Kameraden erzählen uns vom Winterkrieg und den unglaublichen Erlebnissen auf der karelischen Halbinsel. Die Sowjets wollten mit aller Macht hier durchbrechen. Die Wälder waren getränkt vom Blut russischer Soldaten. Der Abtransport der Leichen später muss eine Heidenarbeit für die Sowjets gewesen sein. Mehr als 100.000 Gefallene lagen da in den Wäldern. Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen, obwohl ich so einige Schlachten miterlebte.

Inzwischen ist der Vormarsch unserer „Unbesiegbaren“ in Russland ins Stocken geraten, so hören wir. Die 20. Gebirgsarmee hat Murmansk auch nicht eingenommen und verharrt im Stellungskrieg. Da haben wir es beim Nachschub doch wesentlich besser, vom täglichen Drill mal abgesehen. Diesmal knöpft sich unser Spieß, ein Hauptfeldwebel, den Gefreiten Stemmler vor: „Stemmler, Sie sehen von vorne aus wie eine Frau von hinten, schneiden sie sich gefälligst die Haare“ dröhnt es. Das schwerste ist, beim Unterdrücken des Lachens nicht zu zerplatzen und sich so eine extra Portion Panzer putzen einzuhandeln. Die tägliche Routine endet am Nachmittag. Ich freue mich darauf, mit Keijo angeln zu gehen. Im Gegensatz zu mir ist seine Motivation hoch. Er möchte sein Heimatland um jeden Preis verteidigen. Ich dagegen will vor allem wieder gesund nach Hause kommen.

Kürzlich erzählte mein Gruppenkamerad Kunz von seiner plötzlichen Berufung nach Helsinki zum Besuch des Führers in Finnland. Generaloberst Mannerheim, Oberbefehlshaber der Finnen, hatte einen runden Geburtstag und Hitler rückte an, um ihm zu gratulieren. Kunz wurde wegen besonderer Tapferkeit vorm Feind mit der Ordonnanz bedacht und kam ihm so ganz nahe. Von Schönwetterkanonen soll Hitler erzählt haben und dass diese ihn gehindert hätten, dem Feind im Westen nach der Blitzattacke durch die Ardennen den Garaus gemacht zu haben.

Also Pfeil und Bogen haben wir hier nicht und schönes Wetter sieht anders aus. Die Motoren laufen wegen der Kälte beinahe ständig. Einer der besten Plätze während der Wache ist auf einer Motorhaube zu sitzen, nur erwischen lassen darf man sich dabei nicht. Einmal werde ich von einem Fähnrich während der Wache geweckt und daraufhin von einer möglichen Beförderung ausgeschlossen. Ich bleibe Obergefreiter, während die meisten meiner Kameraden zu Hauptgefreiten werden, die höchstmögliche Auszeichnung unter den Mannschaftsdienstgraden.

„Also Schultze, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht“, schnauzt mich unser Hauptmann vorwurfsvoll an. Von nun ab bin ich von Führungsaufgaben in der Mannschaft entbunden, bleibe aber Vertrauensmann, da mich die Kameraden in dieser Rolle haben möchten. Ein Seelentröster ohne Machtbefugnis, der aufpassen muss was er sagt, ich hasse diese Aufgabe eigentlich. Frei nach Schnauze geht es nach einiger Zeit, in der wir Vertrauen aufbauten, nur mit Keijo und zwei Gleichgesinnten aus meiner Gruppe zu.

Bei einer unserer nachmittäglichen Brotzeiten werden wir von Motorengeräuschen aufgeschreckt. Am Himmel entdecken wir eine Rotte aus fünf Fliegern. Kurz danach wird die Gegend mit einem Bombenteppich belegt und schon sehen wir feindliche Grenadiere in unsere Richtung voranschleichen. Sie rechnen nicht mit uns, da wir uns unerlaubt rund zwei Kilometer vor unser Lager begeben haben und übergehen uns im wahrsten Sinne des Wortes. aber wir sind abgeschnitten. Wir können nur warten. Wäre Keijo nicht mit uns, wir wären verloren. Er kriecht voran, vorbei an Freund und Feind und schließlich erreichen wir einen verborgenen Unterstand. Hier können wir warten, ohne zu erfrieren. Stunden vergehen. Keijo verschwindet in dieser Zeit alleine und kommt mit Proviant zurück. Seine Einheit ist über unsere Situation informiert und bereitet eine ihrer berüchtigten Einkesselungen vor. Sie kreist einen Teil der Sowjets in unübersichtlichem Gebiet ein, schneidet sie vom Rest der Truppe ab und diese befindet sich dann im Würgegriff der Finnen. Diese Strategie wurde in zahllosen Gefechten erfolgreich eingesetzt, erzählt uns Keijo. Dieses Mal kann ich es selbst erleben, während wir geschützt in Deckung das Rattern der Maschinengewehre und gelegentliches Granatfeuer vernehmen. Die Finnen gehen hier keineswegs zimperlich vor. Aus so einer Einkesselung kommt kaum ein Sowjet lebendig wieder raus.

Meine Einheit kann sich ebenfalls durch die rechtzeitige Warnung durch unsere finnischen Freunde dem Angriff der Sowjets erwehren. Keijo kommt mit zum Hauptmann, denn wir müssen erklären, was wir so weit draußen getrieben haben. Keijo rettet uns ein zweites Mal. Er lügt, dass sich die Balken biegen und erzählt von einem heldenhaften Einsatz, der zu seiner Rettung und der seiner ganzen Einheit beigetragen habe, dabei fallen unsere Namen und unsere Rollen, die wir in diesem Schauspiel der besonderen Art eingenommen haben sollen. Stemmler setzt noch einen drauf und erzählt vom Einbruch in das Eis und einem Phantasiemarsch, der unsere Durchschlageübung wie einen Sonntagsspaziergang aussehen lässt. Hauptfeldwebel Volpers starrt uns mit großen Augen und offenem Mund an. So etwas hat er Stemmler gar nicht zugetraut, aber Keijo nickt währenddessen bejahend, von kurzen Unterbrechungen begleitet. Später erzählt er uns lachend, dass er Angst hatte, Stemmler würde etwas von einem Ungeheuer im See oder Ähnlichem erzählen.  Wir lachen Tränen, den zuckenden Bart des Hauptfeldwebels vor Augen.

Ansonsten gibt es nicht viel zu lachen und unsere Extrawürste wurden aufgrund des anrückenden Feindes in den kommenden Monaten seltener. Dem herannahenden Frühling 1944 und dem einsetzenden Tauwetter haben wir es zu verdanken, dass Gefechte mit dem Feind überschaubar bleiben und wir unsere Stellungen nicht ändern müssen. Der matschige Untergrund lässt alles schwere Gerät versinken und Geländegewinne werden so für Freund und Feind unmöglich. Unsere ruhige Nachschub Mission endet und wird zum Flankenschutz für den Rückzug der 20. Gebirgsarmee. Es ist eine traurige Zeit, denn Treffen mit unseren finnischen Freunden werden seltener. Die finnische Führung, so hören wir von Keijo, sei besorgt über die Zukunft ihres Landes. Keijo und seine Freunde sahen sich bisher an der Seite Deutschlands, egal was da kommen mochte. Eine dringend benötigte Verstärkung an der Front wird von Hitler genehmigt und verhilft den Finnen zu einer Atempause. Das befeuert das Ansinnen vieler aus der kämpfenden Truppe, die Treue zu den deutschen Waffenbrüdern zu bewahren.

Die Nachrichten aus der Heimat verheißen nichts Gutes. Meine Heimatstadt wird zerbombt und ich weiß nicht, ob und wer meiner Angehörigen überlebt hat. Ich hege den Gedanken, zu desertieren und mich nach Deutschland über das neutrale Schweden abzusetzen. Gleichzeitig überschlagen sich die Ereignisse in Lappland, Keijo und seine Einheit wird abgezogen. Wir hören vom geordneten Rückzug unserer Truppe nach Westen und dem Einnehmen unserer Stellungen durch die Finnen, die sich mit den Sowjets verbündet haben, um diese so aus Finnland heraus zu halten. Diese, so erfahre ich Jahre später, forderten aber wohl mehr Einsatz der Finnen. Unsere tiefempfundene Freundschaft durch zahllose gemeinsame Einsätze wird aufs tiefste erschüttert und der Schmerz, den wir fühlen, als finnische Einheiten und wir in Kämpfe gegeneinander verwickelt werden, ist kaum zu beschreiben. Ehebruch kann nicht schlimmer sein, ja so empfinden wir.

Unsere Militärführung entscheidet in den letzten Wochen, verbrannte Erde in Lappland zu hinterlassen, um es dem nachrückenden Feind so schwer wie möglich zu machen. Flüchtlingskonvois zu Hunderten passieren nicht weit von unseren Stellungen in Richtung Schweden. Mein Mitleid hielt sich damals in Grenzen. Heute, viele Jahre später, sehe ich das anders: Mit Deutschland wäre Finnland untergegangen und Teil der Sowjetunion geworden. Fünfundvierzig Jahre in Gefangenschaft und Isolation für eine Waffenbrüderschaft zu bezahlen, kann man nicht verlangen.

Meine Freundschaft zu Keijo hält auch nach dem Kriegsende und wir schreiben uns zunächst, bis ich nach vielen Jahren endlich zurück in die Wälder Finnlands reise und mein erstes Eisbad nach einem ausgiebigen Saunagang mit Keijo genieße. Diesmal ohne missliebige Schwachköpfe, Wachen und Feinde. Dafür treffe ich einige Bewohner von Salla wieder, die mir damals mit ihrem heißen Kakao nach bitterkalten Nächten neue Lebensfreude eingehaucht hatten. Der Schmerz auf finnischer Seite scheint verflogen, aber die Erinnerung wird bewahrt. So besuche ich einen deutschen Soldatenfriedhof und wünsche mir eine Brüderschaft ohne Waffen zwischen Finnen und Deutschen.

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„…und bewahre uns vor dem Zorn der Nordmänner!“

Eine Novelle von Rohan Stefan Nandkisore

Es ist noch früh am Morgen als Bernadette sich zum Ufer des nahen Flusses aufmacht. Die Hitze des vorangegangenen Tages war durch ein heftiges Gewitter beendet worden und die darauf folgende Kühle der Nacht hat bei Sonnenaufgang eine Nebelbank über der Seine entstehen lassen. Bernadette ist die erste, die sich zum Wäsche waschen aufgemacht hat. Ein fröhliches Lied trällernd geht sie an ihre Arbeit, denn es sieht ganz so aus als würde es heute wieder ein schöner Tag werden. Die Stille, die den Fluss umgibt, fällt ihr nicht auf. Kein Vogel, keine Katze ist in der Nähe und weder nah noch fern kräht ein Hahn, ganz so als wäre diese Stille Vorbote dessen, was sich im Nebel auf der Seine, noch unsichtbar für Bernadette, zusammenbraut. Nordmänner oder Wikinger, wie sie später voll Furcht und Grauen genannt wurden, haben vor langer Zeit ihre Heimat verlassen und sich zusammen geschlossen um auf Raubzüge zu gehen. Sie waren nicht freiwillig gegangen, sondern gezwungenermaßen. Das Land ihrer Familien in ihrer Heimat konnte sie nicht ernähren, das Erbe war aufgeteilt worden und sie waren außen vor geblieben. Als Knechte auf den Höfen ihrer Väter und Brüder wollten sie nicht arbeiten. Zu stolz waren sie als dass sie solch niederen Dienst hätten ertragen können. Die ungeschützten Ufer Britanniens und Irlands gehörten zu den ersten verlockenden Gestaden, wo es reichlich Beute zu holen gab und wo sie die überlegene Technologie ihrer Boote zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Dies war aber nur der Anfang, denn schon bald kamen ihnen auch die Dörfer an den Küsten Europas und an deren befahrbaren Flüssen für ihre Beutezüge gelegen. Die Wetterlage ist ein Glücksfall für die Nordmänner. Im Schutze des Nebels gelingt es ihnen, unbemerkt ganz nahe an die Ortschaft in einem Tal der Seine heranzukommen. Sie sind weit ins Landesinnere vorgedrungen und Paris ist nicht mehr fern. Insgesamt sind es dreißig Langboote mit ebenso vielen mit Schwertern und Beilen bewaffneten Wikingern an Bord eines jeden Bootes. Diese Boote sind Meisterwerke ihrer Zeit, die den Stürmen der Nordsee und des Nordatlantiks trotzen. Perfekt angepasst an das Element Wasser gleiten sie ihrem Ziel zu, während die Ruder fast lautlos durch das Wasser gleiten. Als Bernadettes Blick zur Nebelbank schweift, ist es schon fast zu spät um zu reagieren. Nur wenige Meter vor ihr taucht plötzlich eine Bugspitze aus dem Nebel auf. Fast wie gelähmt vor Angst starrt sie einen Moment lang auf die Helme der kampfbereiten Meute an Bord. Einige haben sich mit Berserkerpilzen (gemeiner Fliegenpilz) in Stimmung gebracht um das blutige Handwerk leichter von der Hand gehen zu lassen. Ist es die Wäsche in ihren Händen und ihr fröhlicher Gesang bei der fleißigen Arbeit, der ihnen schon geraume Zeit von Weitem in den Ohren klang, dass selbst diese Raubeine Respekt vor ihr haben oder übergehen sie das Mädchen, von dem ja ohnehin nicht viel zu holen ist, ganz einfach? Soviel ist sicher: später, wenn ihr Raubzug erfolgreich beendet sein würde, dann nähmen sie Bernadette gern als Beute mit. Jetzt aber fügt ihr dieser erste Ansturm am Ufer keinen Schaden zu. Sie sind nicht zum ersten Mal hier. Das Grauen, das sie verbreiten, hinterläßt einen nachhaltigen Eindruck, so dass bis ins 19. Jahrhundert hinein in den Kirchen Fürbitten abgehalten wurden, deren Wortlaut den Geistlichen noch heute bekannt ist: „ …und bewahre uns vor dem Zorn der Nordmänner.“ Der Schrecken der Wikinger-Raubzüge endete bereits im 10. Jahrhundert, aber die Erinnerung daran hat sich fast ein Jahrtausend lang in die Herzen der Menschen eingebrannt. Bernadettes erster Schock wandelt sich in große Sorge um ihre Familie, die nur wenige Häuser vom Ufer entfernt wohnt. Sie rennt so schnell sie kann in einem Bogen an der Horde vorbei und erreicht ihre Hütte noch vor den Wikingern. Aber wie soll sie es schaffen, ihre Angehörigen rechtzeitig in Sicherheit zu bringen? Sie schreit durch die Gassen, dass die Nordmänner gekommen sind. Es gelingt ihr, die Leute zu warnen, so dass diese buchstäblich Hals über Kopf ihre Häuser verlassen und um ihr Leben rennen und sich im unwegsamen Hinterland in Sicherheit bringen. Außer ein paar Schrammen und kaum nennenswerten Wunden ist den Angreifern die Überraschung gelungen und sie machen reichlich Beute. Lange halten sie sich jedoch nicht auf und so schnell sie gekommen waren, rudern sie nach weniger als einem halben Tag mit ihren schwer beladenen Booten wieder in Richtung Mündung fort.

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Aus Feuer und Eis geschmiedet

Wäre der nachfolgende Bericht den Isländer Sagas entnommen, würde er dem Reich der Sagen zugerechnet werden: Eine Mär die sich entweder geltungssuchende Nachfahren der Hauptperson oder phantasievolle Erzählkünstler ausgedacht hätten.
Guðlaugur Friðþórsson, die Person, um die es sich hier dreht, ist heute 59 Jahre alt und lebt auf Heimæy, der größten der Westmännerinseln im Südwesten vor der isländischen Küste, auf der er auch geboren wurde. Guðlaugur verbrachte seine Kindheit in einer kleinen Gemeinde, die sich seit Jahrhunderten auf der einzigen dauerhaft bewohnten Insel Heimæy behauptet hat. Auf heute 13,4 Quadratkilometern (damals war sie noch kleiner) spielte sich das Leben von wenigen Hundert Menschen ab. Die Geschichte der Inseln ist dramatisch und beginnt mit der Erschlagung irischer Sklaven durch Wikinger zur Zeit der Landnahme im 9. Jahrhundert n.Chr. Im 17. Jahrhundert überfielen sogar algerische Korsaren
die Inseln und nahmen zweihundert Geiseln mit sich, aber das ist eine eigene Geschichte. Mit dem Beginn der Fischerei begann das große Sterben auf See. So ist verbürgt, dass durch zwei Stürme jeweils an die fünfzig Seeleute zu Tode kamen.
1963 machten die Westmännerinseln auf sich aufmerksam, als ihre „Schwester“, die Insel Surtsey, aus dem Meer geboren wurde, ein Ereignis, das die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zog. Diese jüngste vulkanische Insel ist bis heute ein Naturreservat und nur mit Genehmigung darf man sie betreten.
Guðlaugur war gerade mal elf Jahre alt, als ein Vulkan 1973 seine Insel in Brand steckte.
Diesmal hatten die Bewohner Glück, alle konnten gerettet werden. Elf Jahre später, im Jahr 1984, hat Guðlaugur ein außergewöhnliches Erlebnis, bei dem er etwas über sich erfährt, dessen er sich bis zu jenem denkwürdigen Ereignis nicht bewusst war und das auch
niemand für möglich gehalten hätte. Was war geschehen?
Nach einer kurzen Nacht begibt sich in den frühen Morgenstunden eine Fischerei Crew, bestehend aus Guðlaugur und seinen besten Freunden, an Bord eines kleinen, rostigen Fischdampfers um ihrem Tagewerk nachzugehen. Es ist Winter und die eiskalte Dunkelheit
ist noch nicht gewichen. Die Temperaturen bewegen sich um den Gefrierpunkt und das Wasser liegt nur wenige Grade darüber. Der Film Djúpið,“ die Tiefe“ (ein Spielfilm
mit dokumentarischen Anspruch) zeigt, wie sich zum wiederholten Mal das Grundnetz des Bootes um einen Stein am Grund legt, mit fatalen Folgen. Was dem Zuschauer
wie ein tollpatschiger Unfall mit Todesfolge vorkommt, weil nämlich weder der Motor ausgeschaltet wird, noch Seil gegeben wird und somit das Boot in der Dunkelheit
kentert, ist ein Drama, dessen Auswirkungen im Nordatlantik nicht unbekannt sind.
Nachdem sich drei Besatzungsmitglieder, darunter Guðlaugur, an der Unterseite des gekenterten Schiffes festgeklammert hatten und Versuche, das Rettungsboot aus
der rostigen Verklammerung zu lösen, gescheitert waren, geschieht das, was allen widerfährt, die in dieser Kälte länger als fünf Minuten zubringen müssen: Unkoordiniertes Verhalten verursacht durch kaltes Blut im Gehirn, eine schleichende Ohnmacht und Tod durch Ertrinken und/oder Herzversagen. Guðlaugur versucht, seine Freunde durch Zureden zum Durchhalten zu bewegen, aber es hilft nichts, sie sind verloren. Er jedoch stirbt nicht,
er wartet auf den Tod aber der tritt nicht ein. Die Küste der Westmännerinseln ist nur wenige Kilometer entfernt und wäre bei Tageslicht klar sichtbar gewesen, jedoch
schier unerreichbar. So aber, in der Dunkelheit, sieht man nichts und Guðlaugur kann auch keine Lichter sehen, da dieser Teil der Insel unbewohnt ist. Es ist eine Möwe, die
sich neugierig zu dem neuen Meeresbewohner gesellt. Mit ihr spricht er und versucht, sich an ihr zu orientieren. Sechs lange Stunden schwimmt er mit übermenschlicher
Anstrengung durch das zum Glück ruhige Meer. Er wünscht sich, seine Leute an Land nur noch einmal sehen zu dürfen, bevor er sich in sein Schicksal fügen und bereitwillig sterben würde. Das unglaubliche geschieht: Er erreicht die Küste, muss sogar noch einmal zurück ins Wasser, da er an der Steilküste keine Stelle findet, um an Land zu klettern. Schwere Brecher machen ihm zu schaffen, doch schließlich kriecht und klettert er über die Steilküste an Land. Die Lava schlitzt sein Füße auf, brennender Durst quält ihn. Als er eine alte Badewanne sieht, die als Pferdetränke dient, durchschlägt er das dicke Eis und verletzt sich dabei, aber er kann seinen Durst löschen. Er schafft es nach Heimæy und bricht vor dem Eingang eines der ersten Häuser zusammen. Ein Junge entdeckte ihn und ruft seinen Vater um Hilfe, damit der den, wie er meint, Betrunkenen fortjagen solle. So endete eine Geschichte, die eigentlich nicht wahr sein dürfte. Guðlaugur leidet an den Folgen des Erlebten und teilt dem Nordlandführer mit, dass er sich eigentlich gewünscht hätte, das Schicksal seiner besten Freunde teilen zu dürfen. Auch hätte er sich gewünscht, dass der Film erst nach seinem Tod erschienen wäre. Hier teilt er das Schicksal so mancher bekannter Wunderhelden aus dem Reich der Phantasie, die mit ihren übernatürlichen Fähigkeiten einsam dastehen. Aber ist er wirklich der Einzige? Vielleicht gibt es noch mehr solcher unglaublichen Kerle auf Heimæy, die aus Eis und Feuer geboren und von der Natur gesegnet wurden und es wohl niemals erfahren werden, es sei denn, sie werden so wie Guðlaugur durch ein Schicksal dazu gezwungen, wer weiß?

(Bis heute gibt es trotz intensiver Untersuchungen keine natürliche Erklärung für das Überleben von Guðlaugur Friðþórsson.)

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